USA. Weitaus mehr Frauen erhalten
die Diagnose „Depression“ als Männer. Wie C. Heifner anhand von
halbstrukturierten tiefenpsychologischen Interviews von Männern
aufzeigt, ist die eigenartige Geschlechtsverteilung vermutlich künstlich
erzeugt. Vieles spricht dafür, daß die klassischen Kriterien der
Depression einseitig vom Erleben und Verhalten von Frauen abgeleitet
wurden. Es verwundert dann nicht, wenn mit deren Hilfe vor allem
Frauen als depressiv eingestuft werden. Männer scheinen
„Depressionen“ teilweise völlig anders zu bewältigen und fallen
dementsprechend durch das am weiblichen Stereotyp orientierte
Diagnoseraster. Ihre Depressionen verbergen sich eher hinter
Beschreibungen wie „antisoziale Persönlichkeit“ oder
„Alkoholismus“. Dabei weiß man, daß Männer unter seelischen
Belastungen genau so leiden wie Frauen. Nur sprechen sie nicht darüber.
Die Annahme, daß Männer weniger depressiv sind als Frauen, könnte
sich somit als Mythos entpuppen.
Wodurch zeichnen sich „depressive Männer„
besonders aus? Die Studie von Heifner läßt folgende Eigenschaften
erkennen:
·
Depressive Männer haben eine sehr rigide und
traditionell geprägte Geschlechtsrollenidentität,
·
sie erstreben die Wertschätzung anderer, indem sie
optimal funktionieren und es den anderen recht machen wollen,
·
sie fühlen sich wenig anderen Menschen (insbesondere Männern)
verbunden,
·
sie haben ein verstecktes Selbst entwickelt und
·
sie leiden unter dem Gefühl, ihr Leben nicht mehr unter
Kontrolle zu haben, und nur noch über wenige Wahlmöglichkeiten zu
verfügen.
Typischerweise finden depressive Männer
nur auf einem eher „männlichen“ Weg in die Therapie, indem sie
beispielsweise vom Notarzt aufgrund eines Suizidversuchs eingeliefert
oder von anderen Personen zur Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe
gezwungen werden. Angesichts des Stereotyps vom starken, erfolgreichen
und „coolen“ Allround-Manager fällt es Männern schwer, ihre
Hilflosigkeit sich und anderen einzugestehen. Die wenigsten haben
gelernt, über Gefühle zu sprechen oder diese zu zeigen, es sei denn,
es handelt sich um Ärger. Die meisten depressiven Männer waren schon
immer gute Söhne, gute Studenten, gute Ehemänner usw. gewesen, also
Personen, die tadellos funktionierten und die Erwartungen der anderen
perfekt erfüllten (nach dem Motto „Man muß sich alles
verdienen“). Der Wunsch nach Unterstützung oder das Bedürfnis,
sich mitzuteilen, betrachten sie als Zeichen von Schwäche. So verbrüdern
sie sich gleichsam in einer Verschwörung des Schweigens. Diese zielt
darauf ab, Gefühle zu unterdrücken und so letztlich ein Doppelleben
zu führen, bei dem immer ein Teil im Verborgenen bleibt. Handlungen
wie ein Suizid erscheinen oft wie der verzweifelte Versuch, über eine
Situation wieder Kontrolle zu erlangen und die Blamage zu vermeiden,
schwach zu erscheinen. Die Autorin vermutet, daß der für Männer
erschwerte Zugang zur Diagnose „Depression“ gesellschaftlich
vielleicht sogar gewollt ist: Denn solange Männer an den
traditionellen Vorstellungen festhalten und ihnen die ernüchternde
Konfrontation mit der Diagnose „Depression“ erspart bleibt,
funktionieren sie in berechenbarer Weise weiter.
C.
Heifner: The male experience of depression. 1997 (33, H.2) 10-18