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USA. Auf einen blinden
Fleck in psychiatrischer Forschung und Praxis weisen S. J. Fredman und
J. F. Rosenbaum in einer Übersichtsarbeit hin: 50 Prozent aller
Menschen, die eine Major Depression überstanden haben, müssen in ihrem
Leben mindestens eine weitere derartige Phase bewältigen. Dennoch
interessiert man sich erst wenig für die Frage, wie sich Rezidiven am
besten vorbeugen läßt. Nach Ansicht der beiden amerikanischen
Psychopharmakologen stellt sich dabei oft die Frage, ob es sich wirklich
um ein echtes Rezidiv handelt oder ob die Symptomatik nicht eher einen
Rückfall in eine noch nicht überwundene Erstdepression darstellt
(„Heilung“ oder bloß „Besserung“?).
Da jeder sechste Mensch in seinem Leben mindestens einmal so
nachhaltig an einer Depression erkrankt, daß er seinen Alltag kaum noch
bewältigen kann, fordern Fredman und Rosenbaum, Depressionen genau so
ernst zu nehmen wie andere chronische Volksleiden (etwa Diabetes,
chronische Lungenerkrankungen und Arthrose). Sie kritisieren die Neigung
vieler Forscher, sich vor allem für Umstände zu interessieren, welche
die Erstmanifestation einer Depression und deren Therapierbarkeit
begünstigen. Dagegen werden chronische Verläufe eher stiefmütterlich
behandelt, obwohl rezidivierende Depressionen meist an Schwere zunehmen
und die Abstände von Phase zu Phase immer kürzer werden.
Möglicherweise bahnt jede Depression neurophysiologisch den Weg für
die nächste Depression, was den spiralförmigen Gesamtverlauf erklären
würde. Da sich viele Ärzte noch immer von der Vorstellung leiten
lassen, daß es sich bei Depressionen um „Episoden“ handelt,
ignorieren sie mögliche übergreifende Zusammenhänge.
Nach Ansicht der beiden amerikanischen Spezialisten sind für die
„Therapieresistenz“ mancher Depression weniger die Patienten als
vielmehr ihre Ärzte verantwortlich. Manche Behandler neigen nämlich
dazu, nach dem initialen Ansprechen einer Depression die Medikation
wieder rasch zu verringern. Dabei zeigen zahlreiche
Forschungsergebnisse, wie notwendig es ist, die pharmakologische
Therapie ausreichend lange in der optimalen Dosis beizubehalten (das ist
diejenige Dosis, auf die der Patient angesprochen hat). Menschen mit
häufigen Depressionen haben deshalb vielleicht den größten Nutzen von
einer lebenslangen Therapie. Als zeitliches Behandlungsminimum haben
sich vier Monate herauskristallisiert, in denen der Patient bereits
euthym sein sollte. Frühestens dann ist eine Beendigung der
Antidepressiva-Gabe zu erwägen. Auch sollten vor einem Absetzen der
Medikation möglichst keinerlei Residualsymptome mehr vorhanden sein.
Nach Ansicht der Autoren spricht manches dafür, bei rezidivierenden
Depressionen entschiedener vorzugehen, also gegebenenfalls höher zu
dosieren sowie länger und komplexer zu behandeln.
S.
J. Fredman, J. F. Rosenbaum: Recurrent depression, resistant clinician?
Havard Review Psychiatry 1998 (5) 281-285