Interview
mit Prof. Dr. Ulrich Hegerl, München
Seit
dem 14. Januar 1999 gibt es das Projekt „MedNet Depression, Suizidalität“
offiziell. An diesem Tag ging es neben acht weiteren medizinischen
Netzwerken als Sieger aus einem Wettbewerb hervor, der vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgeschrieben worden war.
ZNS-SPEKTRUM (ZS) hatte die Gelegenheit, Prof. Dr. Ulrich Hegerl nach
den Hauptzielen von „MedNet Depression, Suizidalität“ zu befragen.
Der Münchner Psychiater ist Sprecher der Initiative.
ZS:
Herr Prof. Hegerl, das MedNet Depression, Suizidalität geht davon
aus, daß die Versorgung depressiv Erkrankter bei weitem nicht optimal
ist und daher erheblichen Spielraum für Verbesserungen bietet. Worin
besteht diese Lücke und wie kommt sie zustande?
Prof.
Hegerl: Verschiedene Studien und Übersichtsarbeiten weisen übereinstimmend
auf erschreckend große Defizite bei der Erkennung und Behandlung
depressiver Störungen hin. Mit dem Begriff „Optimierungsspielraum“
beschreiben wir die sich aus der Summe des diagnostischen und
therapeutischen Defizits ergebende Größe, korrigiert durch die
realistischen Möglichkeiten, diese Defizite zu verringern. Besonders
gravierend ist die Situation in der Primärversorgung, wo depressive
Erkrankungen bei mehr als 50 Prozent der Betroffenen unerkannt bleiben.
Meist stehen Klagen über körperliche Beschwerden im Vordergrund, was
den Hausarzt zu ausführlichen somatischen Untersuchungen veranlaßt. Übersehen
wird dabei oft die zugrunde liegende Depression. Eine Depression ist
eine schwere, oft lebensbedrohliche Erkrankung, die gezielt exploriert
werden muß. Dies gilt in besonderem Maße für die Altersdepression.
Deren Symptome sind häufig wenig prägnant. Außerdem verlaufen sie
eher chronisch. Begleitet von multiplen körperlichen Beschwerden stoßen
sie nicht nur beim Patienten, sondern auch bei seinen Angehörigen und
sogar den Ärzten auf Resignation. Selbst wenn die Diagnose richtig
gestellt wird, ist damit noch lange nicht eine ausreichende Therapie gewährleistet.
Denn erneut ist es wiederum nicht einmal jeder zweite, der ausreichend
lang, mit der erforderlichen Dosis und einem nachweislich wirksamen
Medikament behandelt wird. Leider hat sich die Einstellung noch nicht
durchgesetzt, daß es genau so wichtig ist, nach Depressionen zu
fahnden, wie man routinemäßig den Blutdruck mißt.
ZS:
Welche Lösungen schlägt das Netzwerk vor?
Prof.
Hegerl: Sogenannte Awareness-Programme haben sich im Ausland bereits
bewährt. Sie zielen darauf ab, gesichertes Wissen über Depressionen
auf alle Versorgungsebenen zu transferieren und zugleich die Beteiligten
zu sensibilisieren. Außerdem gilt es, strukturelle Barrieren abzubauen
(etwa Arzneimittelbudgets). Solche zeichnen beispielsweise dafür
verantwortlich, daß stationär eingeleitete Medikationen im ambulanten
Bereich aus budgettechnischen Gründen ab- oder umgesetzt werden. Nur so
erklärt sich, daß Deutschland bei den Antidepressiva-Verordnungen
international eine Sonderstellung einnimmt. Hier stehen den
antidepressiv wirkenden Phytopharmaka mit einem stolzen Marktanteil von
30 Prozent und den älteren trizyklischen Antidepressiva die neuen
Antidepressiva mit einem vergleichsweise bescheidenen Anteil gegenüber.
ZS:
Das Netzwerk hat auch das Ziel, die Forschung zum Thema „Depression,
Suizidalität“ zu verbessern? Was sind die geplanten Schritte?
Prof.
Hegerl: Strukturelle bzw. formale Faktoren erschweren oft eine
realitätsgerechte Erforschung depressiver Erkrankungen. So verlangen
zum Beispiel die Regelungen für die Zulassung eines neuen
Arzneimittels, daß dieses an Patienten mit einer genau umschriebenen
Diagnose geprüft wird. Um die Störvarianz zu minimieren, kommen außerdem
zahlreiche Ausschlußkriterien zum Zuge. Dies hat zur Folge, daß
Phase-III-Studien für den hausärztlich tätigen Arzt nur wenig
Orientierung bieten. Denn sein Klientel bietet selten ein
„Reinbild“. Vielmehr ist dieses oft multimorbide und daher nur
schwer diagnostisch einzuordnen. Außerdem werden mehrere
unterschiedliche Arzneimittel gleichzeitig eingenommen. Auch die
psychiatrischen Universitätskliniken beforschen überwiegend stationäre,
also schwerer erkrankte depressive Patienten. Diese Faktoren führen
dazu, daß zum Beispiel Patienten mit minoren und subdiagnostischen
Formen der Depression sowie mit depressiven Symptomen mit komorbiden
somatoformen Störungen und Angststörungen wenig untersucht sind,
obwohl man ihnen in der ambulanten Praxis häufig begegnet. Derartige
Themen, die den niedergelassenen Kollegen auf den Nägeln brennen,
sollen deshalb im Rahmen des Netzwerks aufgegriffen werden.
ZS:
Vielen Dank für Ihre Hinweise.
Kontaktadresse des MedNet Depression:
Prof.
Dr. Ulrich Hegerl, Psychiatrische Klinik der Ludwig
Maximilians-Universität
Nußbaumstraße
7, 80336 München
Tel.
89/5160-5540, Fax 089/5160-5542
E-Mail:
Uhegerl@psy.med.uni-muenchen.de