Hamburg.
An der Schwelle zum nächsten Jahrtausend stellt sich auch psychiatrischen
Konzepten die Frage, wie weit sie zukunftsfähig sind. Dabei gilt für
Depressionsexperten schon heute, dass mit Symptomskalen gemessene
Besserungen als Heilungskriterium nicht länger ausreichen. So garantiert
ein „normalisierter Hamilton-D-Score“ noch lange nicht, dass ein
Patient wieder in der Lage ist, befriedigend zu arbeiten. Dazu muß er
auch im sozialen Bereich besser funktionieren. Und noch in einer weiteren
Richtung wird sich psychiatrisches Denken zunehmend öffnen: Da die
Politik das Gesundheitswesen unaufhaltsam in die ökonomische
Mitverantwortung nimmt, werden Behandler künftig vermehrt (gesamt)wirtschaftlich
denken und handeln müssen. Zwar haben immer schon ökonomische
Gegebenheiten Therapiemöglichkeiten beeinflußt; für viele Ärzte war
dieser Zusammenhang jedoch eher nachrangig. Diese Zukunftsthemen
behandelte ein von Pharmacia & Upjohn organisiertes internationales
Symposium, das am 6. August 1999 in Hamburg zum Auftakt des 11.
Weltkongresses für Psychiatrie stattfand. Moderator war Prof. Dr. Juan J.
López-Ibor (Spanien). Mit dem Schwerpunkt „Wirtschaftliche Behandlung
der Depression“ griff das Symposium wichtige Aspekte des futuristisch
klingenden Hauptthemas auf („Psychiatrie an der Schwelle des nächsten
Jahrtausends“).
Wie groß die „Last der Depression“ für die Betroffenen, ihre
Bezugspersonen und die Gesellschaft schon jetzt ist, verdeutlichte Prof.
Dr. Juan J. López-Ibor. Der designierte Präsident des Weltverbandes für
Psychiatrie wies darauf hin, daß die unipolare Major Depression bereits
1990 für fast 11 Prozent aller mit einer Behinderung verbrachten
Lebensjahre verantwortlich zeichnete. Damit belegt sie hinter den
Herzdurchblutungsstörungen einen unerfreulichen zweiten Platz. Depressive
Patienten leiden nicht nur unter ihren seelischen Symptomen; sie kämpfen
auch mit körperlichen Beschwerden und Begleiterkrankungen, haben soziale
Probleme und nehmen verstärkt Leistungen des Gesundheitswesen in
Anspruch. Zugleich erschweren sie die Diagnosestellung, indem sie vor
allem ihre körperlichen Beschwerden in den Vordergrund rücken. Angehörige
werden in das Depressionsgeschehen einbezogen und erkranken als Folge der
Belastungen oft selbst. Schließlich leidet auch die Gesellschaft unter
ihren Depressiven, da sie einen Berg direkter und indirekter Kosten tragen
muß.
Paradoxien
und nützliche Unterscheidungen
Vor falschen Erwartungen an
„wirtschaftliche Strategien“ bei Depressionen und vor „Gefälligkeitsbeurteilungen“
für Antidepressiva warnte Prof. Dr. Koen DeMyttenaere. Nach Ansicht des
belgischen Experten ist es hilfreich, zwischen dem bloßen
„Ansprechen“ einer schwereren Depression auf eine Therapie und einer
kompletten „Erholung“ zu unterscheiden. Denn trotz einem
„Ansprechen“ auf die Behandlung verbleiben bei vielen Depressiven oft
noch leichtere Symptome („Minor Depression“), eine Dysthymie oder eine
Angsterkrankung. Sie zeichnen dann dafür verantwortlich, dass die
Betroffenen als Arbeitskräfte weiterhin ausfallen. In solchen Fällen verändern
sich auch die indirekten
Krankheitskosten nur wenig, die wesentlich zu den gesellschaftlichen
Gesamtkosten der Depression beitragen. Wie läßt sich die Situation
verbessern? Zum einen regte DeMyttenaere an, die Diagnostik zu überprüfen.
Denn möglicherweise liegt es nicht an „Restsymptomen“ einer
Depression, wenn die betreffenden Patienten weiterhin unproduktiv bleiben.
Denkbar sei auch, daß primär neurotische Züge bzw. Persönlichkeitseigenschaften
dafür verantwortlich zeichnen, die eigener Behandlungsstrategien bedürfen.
Zum anderen betonte der belgische Fachmann die Notwendigkeit, Depressionen
ausreichend lange zu behandeln. Denn immer wieder bestätigen Studien, daß
sich die volle Wirkung von Antidepressiva erst nach mehreren Monaten
entfaltet. Paradoxerweise führt mitunter sogar eine ausgezeichnete
Wirkung zum „Therapieversagen“. Dies droht, wenn der Patient die
Behandlung aufgrund zunehmenden Wohlbefindens beendet, ohne daß sich der
Behandlungserfolg ausreichend stabilisieren konnte.
Wegfall
von Pathologie nicht mit „Heilung“ verwechseln
Schon lange fragt man
sich, warum Patienten im sozialen und beruflichen Bereich weiterhin
erhebliche Defizite aufweisen, obwohl sich ihre depressiven Symptome
eindrucksvoll gebessert haben. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die
„Depression“ ein multidimensionales Phänomen ist, dessen vielfältige
Facetten erst allmählich entdeckt werden. Dr. David Baldwin (Großbritannien)
vermutete deshalb, dass man die heutigen Kriterien zur
Depressionsbeurteilung bald als sehr „eindimensional“ belächeln wird.
Der britische Experte schloß nicht aus, daß Krankenkassen und andere Käufer
von Gesundheitsleistungen vermehrt Nachweise darüber fordern werden,
inwieweit ein Antidepressivum auch die Arbeitsfähigkeit wiederherstellt
und die Lebensqualität verbessert.
Ungenügend
behandelte Depressionen sind die teuersten
Wie „teuer“ ein
„zu wenig“ in der medikamentösen Depressionsbehandlung sein kann,
verdeutlichte Prof. Dr. Stuart A. Montgomery (Großbritannien) am Beispiel
mangelnder Compliance. Sie führt häufig dazu, daß Depressionen über
Gebühr lange andauern. Zu den wichtigsten Gründen von Therapieabbrüchen
gehören Arzneimittelnebenwirkungen. Deshalb kann die Wahl eines verträglichen
Antidepressivums die Compliance wesentlich verbessern und zugleich die
wirtschaftliche Effizienz der Behandlung entscheidend steigern. Unter
diesem Gesichtspunkt ist ein teureres Medikament langfristig mitunter das
wirtschaftlichere. Als Beispiel eines nicht nur ausgezeichnet wirksamen,
sondern auch sehr verträglichen Antidepressivums stellte Montgomery
Reboxetin (EdronaxÒ)
vor. Der von Montgomery selbst klinisch eingehend geprüfte selektive
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer ist bei mindestens vergleichbarer
Wirkung weitaus verträglicher als das klassische Trizyklikum Imipramin.
Im Vergleich zu Fluoxetin ist es signifikant wirksamer bei ähnlicher
Verträglichkeit. Wie der britische Psychiater hervorhob, hat sich
Reboxetin im placebokontrollierten Vergleich auch als effiziente
Langzeitmaßnahme zur Rezidivprophylaxe bewährt. Dabei war die
Nebenwirkungsrate nur unwesentlich höher als unter Placebo. Keine einzige
Nebenwirkungen war in der Langzeitbehandlung mehr mit Reboxetin als mit
Placebo verknüpft.
Im Hinblick auf den
ambulanten Nutzen befaßte sich auch Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller (München)
mit den Vorteilen von Reboxetin. In vielen Staaten bestehe die Tendenz,
selbst sehr schwere Formen der Depression aus wirtschaftlichen Gründen
ambulant zu behandeln, berichtete der Münchner Klinikchef. Es sei deshalb
wichtig, dass Antidepressiva zusätzlich zu ihrer Wirksamkeit und
allgemeinen Verträglichkeit dem erhöhten Suizidrisiko Depressiver
Rechnung tragen. Immerhin unternehmen rund 25 Prozent aller Patienten mit
einer Major Depression irgendwann einen Selbsttötungsversuch. Wer die
Verzweiflungstat übersteht, bedarf anschließend meist erhöhter Unterstützung.
Vor diesem Hintergrund beruhige es, daß unter Reboxetin weniger
Suizidversuche vorkommen als bei anderen Depressiva bzw. unter Placebo.
|