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Kulturelle Gewalt gegen psychisch Kranke

 

von Prof. Dr. med. Dr. phil. Rolf D. Hirsch, Chefarzt der Abt. für Gerontopsychiatrie, Rheinische Kliniken, Bonn; 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und –psychotherapie

    Im Gesundheitswesen ist das Thema Gewalt weiterhin stark tabuisiert. Noch am ehesten kommt es zu Sprache, wenn es in Form direkter körperlicher Gewalt offenkundig ist. Beispiele sind die Fixierung, die zwangsweise Verabreichung von Medikamenten und Nahrung und das Anlegen unnötiger Katheter. Schon weniger bewusst sind sich viele, dass auch Anschreien, Auslachen, der Gebrauch von Schimpfwörtern sowie finanzielle Ausnutzung und Vernachlässigung Formen direkter Gewalt sind. Dabei geht es keineswegs nur einseitig um Gewaltakte, die Kranke erleiden. Auch Pflegekräfte und Angehörige sehen sich immer wieder mit Gewalt konfrontiert (etwa wenn sie von Demenz-Kranken geschlagen werden, Vorwürfe und Beschimpfungen von Patienten über sich ergehen lassen oder Missstände verschweigen müssen).

    Erst in neuerer Zeit wird man sich auch der Bedeutung struktureller Gewalt bewusst. Beispiele dafür sind

·        Tagesstrukturen, die sich nicht an den Bedürfnissen der Bewohner orientieren,

·        der Zwang, mit einer fremden Person ein Zimmer zu teilen,

·        Maßnahmen nach dem Motto „Sicherheit geht vor Selbstbestimmung“,

·        die Gabe von Beruhigungsmitteln anstelle des Angebots von Wohnraum und Beziehung.

Am subtilsten wirkt vermutlich kulturelle Gewalt. Sie stützt sich auf immanente Wertvorstellungen und kollektive Vorurteile. Am deutlichsten und häufigsten begegnet uns kulturelle Gewalt heute im Umgang mit alten Menschen. Hier agiert sie über „Gewaltwörter“ wie „Rentnerschwemme“, „Alterslawine“, „Überalterung“, „allgemeiner Altersabbau“ und „Heiminsasse“. Solche Begriffe diskrimieren und suggerieren, dass die Bezeichneten eine Bedrohung für die Gesellschaft sind. Es handelt sich um „Un-Wörter“, die als ausdrucksstarke Symbole Denken und Handeln destruktiv – und das oft unmerklich – beeinflussen. Ein weiteres Beispiel für kulturelle Ursachen von Gewalt ist die männlich geprägte Annahme, Pflege erfordere nur „weibliche Tugenden“. Die pauschale Übertragung des Modells „Mutter-Kind-Beziehung“ auf die Pflege erschwert deren Professionalisierung und trägt zu Mißverständnissen bei.

Nach dem Vortrag „Gewalt hat viele Gesichter“ auf dem 11. Bonner Symposium „Gewalt gegen Alzheimer-Kranke“ am 20.09.1999