von Prof. Dr. med. Jürgen Fritze,
Zentrum der Psychiatrie, Universität Frankfurt am Main; Ltd. Arzt,
Verband der Privaten Krankenversicherung, Köln
Depressionen sind heute gut behandelbar. Allein unter einer
Pharmakotherapie bessern sich innerhalb von sechs Wochen 60 bis 80 Prozent
der Betroffenen. Dieser Anteil erhöht sich auf 85 Prozent, wenn man den
Non-Respondern ein zweites oder drittes Antidepressivum anbietet. Die
Effektstärken antidepressiver Therapien können sich mit denjenigen
organmedizinischer Interventionen bestens messen. In der
Sekundärprävention ist die Effektstärke sogar höher als diejenige beim
Herzinfarkt.
Um so bedauerlicher ist es, dass allenfalls 20 Prozent aller
depressiven Patienten adäquat behandelt werden. Folgen der
Unterversorgung sind nicht nur seelisches Leid und eine hohe Suizidrate;
auch die Volkswirtschaft wird mit Kosten belastet, deren Größenordnung
mit derjenigen der koronaren Herzkrankheit vergleichbar ist. Immerhin sind
bei einer mittelschweren Depression bereits 80 Prozent der Betroffenen
arbeitsunfähig.
Auf der Grundlage der ICD-10 werden Depressionen heute
phänomenologisch diagnostiziert. Dabei konzentriert man sich auf
Schweregrade und Verlaufsformen und verzichtet weit gehend auf Theorien.
Dies schützt davor, sich von ätiologisch ausgerichteten („kausalen“,
oft aber kurzschlüssigen) Therapien (ver)leiten zu lassen. Statt dessen
nimmt man heute an, dass es sich bei Depressionen um multifaktorielle
Störungen handelt, die einer multimodalen Behandlung bedürfen. Die
Qualitätssicherung erfordert als Minimum, den Schweregrad der Depression
quantitativ und damit in Selbst- und Fremdeinschätzung nachvollziehbar
einzuschätzen.
Faktisch befinden sich 80 Prozent aller Depressiven primär in
hausärztlicher Behandlung. Bei schwerer Depression, Suizidalität, einer
Depression mit psychotischen Merkmalen oder schwieriger Pharmakotherapie
ist es ratsam, schon primär einen Facharzt als Mitbehandler
einzubeziehen. Ist ein depressiv Kranker nach sechswöchiger ambulanter,
hausärztlicher antidepressiver Pharmakotherapie und/oder hausärztlicher
Psychotherapie unverändert depressiv krank, bedarf es spätestens jetzt
ebenfalls der konsiliarischen Untersuchung und Mitbehandlung durch den
Facharzt. Über 90 Prozent aller depressiv Kranken können ambulant
erfolgreich behandelt werden. Sobald jedoch unter fachkundiger Anleitung
auch ein zweiter sechswöchiger Therapiezyklus erfolglos bleibt, erscheint
eine Krankenhausbehandlung gerechtfertigt (nicht zuletzt, um einer
Chronifizierung vorzubeugen). Optional können Augmentationsstrategien
(mit Lithium oder Schilddrüsenhormon) vorgeschaltet werden.
Bei leichter bis mittelschwerer unipolarer Depression erlauben die
bislang vorliegenden Studien keine Differentialindikation zwischen einer
spezifischen Psychotherapie und einer antidepressiven Pharmakotherapie.
Hier kann man den Präferenzen des Patienten freien Raum geben. Bei
schwerer, insbesondere stationär behandlungsbedürftiger Depression ist
dagegen die Überlegenheit der Pharmakotherapie belegt und eine Medikation
somit obligat. Eine zusätzliche Psychotherapie kann die Gesundung
fördern. Außerdem scheinen sich Rezidive im Anschluss an eine
erfolgreiche Psychotherapie seltener zu ereignen als nach einer alleinigen
antidepressiven Pharmakotherapie. Ihre Eignung zur Behandlung depressiver
Patienten haben bislang folgende Psychotherapieverfahren belegt: die
Interpersonale Therapie (IPT) und die kognitive Therapie, mit
Einschränkungen auch die alleinige Verhaltenstherapie und die
tiefenpsychologisch fundierte Kurzzeittherapie. Als „Nebenwirkungen“
der Psychotherapie drohen Überforderungen des Kranken und ein Verlust an
Autonomie (wenn die Behandlung trotz Wirkungslosigkeit fortgeführt wird).
Die Latenz bis zum Wirkungseintritt (meist drei bis vier Wochen)
ist bei einer Psychotherapie in der Regel länger als bei einer
Pharmakotherapie. In den ersten sechs Monaten nach einer depressiven
Episode besteht ein hohes Risiko einer Wiedererkrankung. Deshalb ist es
zwingend erforderlich, in dieser Zeit Antidepressiva in therapeutischer
Dosis weiter zu verabreichen. Bei rezidivierender unipolarer Depression
ist eine mindestens fünfjährige prophylaktische Therapie erforderlich
(mit Antidepressiva oder mit Lithium).
Vertiefende Literatur:
J. Fritze u.a.: Systematische Behandlung der Depression: Versuch eines
Konsenses. Psycho 1998 (24, Sonderausgabe) 204-213
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