von Dr. med. Bernd Winterhalter, Direktor für
Medizin und Wissenschaft, Pharmacia & Upjohn GmbH, Erlangen
Unter
dem Stichwort „postmoderne Medizin“ gewinnt ein neues Paradigma an
Aufmerksamkeit. Zu seinen besonderen Merkmalen gehört der Zweifel an
der Existenz „objektiver Fakten“ und an der Möglichkeit,
„objektiv“ Wissenschaft zu betreiben. Statt dessen betont das neue
Leitbild die Relativität aller Phänomene und versteht es „Realität“
als einen Sammelbegriff für eine Vielzahl gleichberechtigter
unterschiedlicher Bedeutungen. „Realität“ wird danach von jedem
einzelnen individuell „konstruiert“ bzw. gemeinsam mit anderen
„ausgehandelt“. Als Medium dient die persönliche Erzählung
(„Narrativ“), weshalb Gespräche zwischen Arzt und Patient in der
postmodernen Medizin einen hohen Stellenwert erhalten und kommunikative
Fähigkeiten künftig wohl noch wichtiger werden.
Aber
nicht nur das Gespräch mit dem Patienten wird aufgewertet, auch die
Rolle des Patienten verändert sich. So bieten sich Patienten vermehrt
als „Partner“ an bzw. werden sie als solche von |
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Seiten der Medizin entdeckt. Ein hoher Grad an
Informiertheit (zum Beispiel mit Hilfe des Internet) und die Erkenntnis,
dass (vor allem chronisch) Kranke ausgewiesene Experten ihrer Leiden
sind, stützen die neue Position und befreien Patienten aus dem Status
von „Objekten“ oder „Fällen“ des Medizinbetriebs. Vordenker der
postmodernen Medizin und Initiativen in den USA und Australien haben
bereits begonnen, Patienten aktiv in Gremien einzubeziehen, die über
den Sinn von Forschungsprojekten entscheiden oder Forschungserkenntnisse
vor ihrer Publikation begutachten. Indem sich Patienten von
„Hilflosen“ zu „Partnern“ entwickeln, sind sie natürlich auch
gefordert, mehr Verantwortung zu übernehmen. Ärzten bietet dieser
Wandel an, nicht länger monopolistisch Expertenwissen zu verwahren,
sondern sich zu Experten im Umgang mit und Transfer von Fachwissen zu
entwickeln.
Zur
neuen Patienten-Rolle passt, dass postmoderne Medizin großen Wert auf
Prozesse legt (also nicht nur auf Behandlungsergebnisse). Es
interessiert somit nicht nur, ob der Patient länger lebt oder endgültig
geheilt wird, sondern auch, wie er sich während der |
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Behandlung fühlt und weiter entwickeln kann
(Stichwort: Lebensqualität). Diese Aspekte wurden in der modernen
Medizin vernachlässigt und dürften die Nachfrage nach
„Alternativmedizin“ gefördert haben. Mittlerweile setzt sich die
Erkenntnis durch, dass die Qualität der Betreuung (also auch das
Arzt-Patient-Verhältnis) zum Behandlungsergebnis wesentlich beiträgt
und möglicherweise einen Teil des sog. Placebo-Effektes erklärt.
Mangels
Raum können zwei weitere wichtige Kennzeichen postmoderner Medizin
abschließend nur erwähnt werden: 1. Postmoderne Medizin stützt sich
nicht nur auf „Beweise“ („evidence“), sondern macht ihr Vorgehen
auch von Bewertungen abhängig (Beispiel: Kosten und Nutzen von
Behandlungen für die Gesellschaft). 2. Postmoderne Medizin achtet
vermehrt auf die Risiken medizinischer Maßnahmen. Damit steuert sie der
noch immer verbreiteten Tendenz entgegen, durch einseitige Beschäftigung
mit dem Nutzen von Maßnahmen ein verfälschtes Bild zu zeichnen.
Literatur: z.B. J. A. M.
Gray: Postmodern medicine. Lancet 1999 (354) 1550-1553; H. Goodare u.a.:
Involving patients in clinical research. Brit. Med. J. 1999 (319)
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