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Depressionskonzepte auf wackeligen Beinen?

– Experten rütteln an Glaubensgebäuden -

Lengenfeld-Velburg. „Mythen“ im Zusammenhang mit dem Thema „Depression“ galt ein besonderes Augenmerk des 8. Interdisziplinären Expertengesprächs Psychiatrie. Unter Leitung von Dr. Lothar Blaha (Deggendorf) erörterten 12 renommierte Experten nicht nur Fortschritte, sondern auch Schwachpunkte moderner Depressionswissenschaft.

Für Prof. Dr. Dr. Matthias Dose lässt sich mancher Glaubenssatz der heutigen Depressionstherapie mit einem Fragezeichen versehen. Zu ihnen rechnet er die in Lehrbüchern anzutreffende Aussage, in der pharmakologischen Therapie der Depression seien „SSRI wegen ihrer allgemein guten Verträglichkeit Mittel der ersten Wahl“. Schon den Ausdruck „Mittel der ersten Wahl“ hält der Taufkirchener Psychiater für bedenklich, zumal nicht wenige „Mittel der ersten Wahl“ dieses Etikett innerhalb kurzer Zeit wieder verlieren. Dose veranschaulichte am Thema „Suizid“, dass sich gerade um Serotonin Mythen ranken. Seit Anfang der 80-ger Jahre wird nämlich immer wieder diskutiert, ob ein „Serotonin-Mangel“ suizidales Verhalten fördert. Diese These stützt sich jedoch auf relativ wenige Proben aus Liquor und Hirngewebe. Sie wurden zudem meist unter wenig standardisierten Bedingungen gewonnen, so dass ihre Aussagefähigkeit fraglich erscheint.

Differenziert mit „Suizid“ umgehen

    Dose rüttelte in diesem Zusammenhang auch an weiteren Grundannahmen zur „Suizidalität“. Er warnte vor dem vereinfachenden Bild „des Suizidalen“ und plädierte dafür, Suizidalität als komplexes Konstrukt zu nutzen. Letzteres spiegelt sich in einer sehr unterschiedlichen Typologie „suizidaler“ Personen wider. Deren Spektrum reicht vom mit sich hadernden nächtlichen Nutzer der Telefonseelsorge bis zum „Hardliner“, der still die Selbsttötung vorbereitet und sie dann konsequent durchführt. Auch die Zuordnung von Suiziden zu den „Impulskontrollstörungen“ betrachtete der Taufkirchner Experte als „Mythos“. Denn viele Suizidenten führen ihr Ableben erschreckend kontrolliert herbei. Die Auswahl der Mittel hängt dabei oft wesentlich von kulturellen Gegebenheiten ab (etwa der Verfügbarkeit von Schusswaffen). Für eine differenzierte Wertung von Suizidversuchen und Suiziden spricht die Tatsache, dass nur 15 Prozent aller vollendeten Versuche ein Suizidversuch vorausgegangen ist.

     Anhand der Kampagne „Bündnis gegen die Depression“ erläuterte Dr. Dr. Günter Niklewski einige praktische Schwierigkeiten im Umgang mit „Suizidalität“. Zu ihnen gehört die Frage, wann genau ein Suizidversuch beginnt. Ebenfalls unklar ist, inwieweit eine „Greencard“ (mit einer 24-Stunden-Notrufnummer) Gefährdete von einem Suizid abhalten kann. In dem auf zwei Jahre angelegten Nürnberger Projekt wurde dieses Angebot kaum genutzt. Möglicherweise wirkt eine solche Greencard ähnlich wie das Notfallsedativum, das viele Angstkranke ständig bei sich tragen, ohne es je zu nutzen, gab Niklewski zu bedenken. Immerhin haben die unterschiedlichen Interventionen des Nürnberger Projekts schon in der Anfangsphase des Modellversuchs eindrucksvoll gewirkt: Innerhalb der ersten neun Monate (2001) sank die Zahl der Suizide im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (2000) von 79 auf 47 (entsprechend einer Abnahme von rund 40 Prozent). Dies überrascht um so mehr, als „Suizid“ kein offizielles Thema der Kampagne ist und als Begriff möglichst ausgespart wird.

     Etwas willkürlich muten manche„Randindikationen“ älterer Antidepressiva an (wie Einnässen oder krankhaftes Lachen und Weinen), ergänzte Dose seine kritische Darstellung einiger Ungereimtheiten der Depressionstherapie. Solche Randindikationen erklären sich dadurch, dass sie zu einer Zeit zugelassen wurden, als das Arzneimittelrecht in seiner Forderung nach Wirksamkeitsnachweisen noch weniger streng verfuhr. Mittlerweile gehört „Augmentation“ (Kombination von Antidepressiva mit anderen Maßnahmen) zum Standard der Depressionsbehandlung, wie Prof. Dr. Helmut Woelk in einer Übersicht skizzierte. Dabei kommen zahlreiche Arzneimittel (Thyroxin, Pindolol) mit Erfolg zum Einsatz, obwohl sie nicht ausdrücklich zur „Augmentation“ zugelassen wurden.

       Vor der unkritischen Übernahme publizierter Studienergebnisse warnte Dr. Lothar Blaha. So wird immer wieder diskutiert, inwieweit therapeutische Maßnahmen die „Kognition“ bei Depressionen und Demenzen günstig beeinflussen. Ausgehend von Wirkungen auf einzelne Tests wagen manche Untersuchungen oft verallgemeinernde Rückschlüsse auf das (nicht näher definierte) Konstrukt „Kognition“. Vor allem die Wissenslage zum Einfluss moderner Antidepressiva auf die Kognition lässt noch sehr zu wünschen übrig, meinte Dr. Siegfried Lehrl. Eine vom ihm durchgeführte Literaturrecherche ergab unter rund 15 Millionen gesichteter Publikationen lediglich 50 Treffer.

Depressionen - Stiefkind der Parkinson-Therapie

     Ein im Hinblick auf seine kognitionsfördernden Effekte relativ intensiv untersuchtes modernes Antidepressivum ist Reboxetin (Edronax®). Nachgewiesenermaßen verbessert es Reaktionszeit und Vigilanz. Der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer scheint nicht zuletzt in dem Komorbiditäts-Dreieck Depression-Parkinson-Demenz eine vielversprechende Rolle zu spielen, wie Dr. Peter Schüler erläuterte. Der Mannheimer Neurologe und Wissenschaftler zeigte auf, dass kognitive Störungen offenbar ein wichtiges gemeinsames Vielfaches der drei erwähnten Leiden sind. Da Noradrenalin bei allen drei Erkrankungen eine zentrale Rolle spielt, liegt es nahe, in diesen Fällen vor allem eine spezifisch noradrenerg wirkende Substanz wie Reboxetin einzusetzen.

    Mit den Besonderheiten der Depression Parkinson-Kranker beschäftigten sich Prof. Dr. Reinhold Schüttler und Prof. Dr. Diethard Müller. Charakteristisch für Depressionen Parkinson-Betroffener ist, dass Schuld, Versündigung, Wahn und schlechtes Selbstwertgefühl eher selten auftreten. Da Depressionen und Morbus Parkinson äußerlich mit einem ähnlichen Erscheinungsbild einhergehen (gebeugte Haltung, Bewegungsstarre, eingeschränkte Mimik), werden Depressionen bei Parkinson-Patienten nach wie vor zu selten diagnostiziert und behandelt. Müller schloss nicht aus, dass eine stabilisierende Behandlung mit dem langwirksamen Dopaminagonisten Cabergolin (Cabaseril®) letztlich auch die Affektivität günstig beeinflusst. Für eine Depressionsbehandlung mit Reboxetin (Edronax®) spreche, dass zahlreiche Gehirnregionen verstorbener Parkinson-Patienten ein Noradrenalin-Defizit aufweisen.

     Ob sich die repetitive transkraniale Magnetstimulation (rTMS) in der Depressionstherapie etablieren wird, bleibt abzuwarten. Wie Prof. Dr. Helmfried Ernst Klein veranschaulichte, ist dieses gut verträgliche Verfahren in der Lage, den Effekten eines Schlafentzugs zu längerer Dauer zu verhelfen. Depressionsvorbeugend scheint eine Kombination aus Psychomotorik- und Kompentenztraining zu wirken, wie die von Prof. Dr. Wolf D. Oswald vorstellten Ergebnisse der SIMA-Studie verdeutlichen.

Nach Vorträgen auf dem 8. Interdisziplinären Expertengespräch Psychiatrie, 19. April 2002, in Lengenfeld-Velburg (Oberpfalz); Teilnehmer: Dr. Lothar Blaha (Deggendorf, Vorsitz), Prof. Dr. Dr. Matthias Dose (Taufkirchen), Dr. Norbert Hilmer (Deggendorf), Prof. Dr. Helmfried Ernst Klein (Regensburg), Dr. Siegfried Lehrl (Erlangen), Prof. Dr. Diethard Müller (Ilmenau), Dr. Dr. Günter Niklewski (Nürnberg), Prof. Dr. Wolf D. Oswald (Erlangen), Dr. Peter Schüler (Mannheim), Prof. Dr. Reinhold Schüttler (Günzburg), Dr. Günter Steurer (Ansbach), Prof. Dr. Helmut Woelk (Gießen); Sponsor: Pharmacia GmbH (Erlangen)