Australien. Menschen sind soziale Wesen und damit auf „Bindung“
(Beziehung) ausgerichtet. Die Art und Weise, wie ein Mensch diese lebt und
erlebt, hängt davon ab, welche einschlägigen Erfahrungen er in seiner
frühen Kindheit gemacht hat. Depressive Menschen scheinen vermehrt
Trennungen, Verluste und Entbehrungen sowie eine Verkennung ihrer
Bedürfnisse und Gefühle im zwischenmenschlichen Bereich erfahren zu haben,
wie J. Beatson und S. Taryan in einem Übersichtsbeitrag aufzeigen.
Oft hatten sie Bezugspersonen, die sie vernachlässigten, ignorierten
(nicht zuletzt aufgrund einer Depression!), übermäßig kontrollierten oder
grenzüberschreitend verletzten. Solchen „unsicher gebundenen“ Personen
fehlen Vorbilder, an deren Beispiel sie lernen konnten, dass und wie es
möglich ist, sich mit anderen Menschen emotional abzustimmen und
entsprechend mit diesen zu kommunizieren. Mangels empathischer und
beruhigend wirkender Bezugspersonen sind sie Stress oft schon von Geburt
an hilflos ausgeliefert und ihr Organismus neigt deshalb immer mehr dazu,
auf Belastungen überschießend zu reagieren („Stress-Sensibilisierung“).
Dagegen haben „sicher gebundene“ Menschen das Glück, dass ihnen frühzeitig
einfühlsame Helfer auch in Stressmomenten zu Gefühlen von Sicherheit und
Wohlbefinden verholfen haben. Allmählich konnten sie so in ihrem Inneren
ein Modell eines zuverlässigen Aufpassers („Begleiters“) entwickeln, das
ihnen seitdem hilft, emotionale Belastungen selbstständig zu bewältigen
(sich also selbst zu regulieren). Die Erfahrung „sicherer Gebundenheit“
wirkt im weiteren Leben offenbar wie ein Puffer, der stressbehaftete
Ereignisse emotional dämpft. Manche Wissenschaftler betrachten das
„Bindungssystem“ sogar als das wichtigste Steuerungselement zur
Gewährleistung eines normalen neurophysiologischen Gleichgewichts.
Vor diesem Hintergrund scheint hinter der von depressiven Menschen
beklagten Hilflosigkeit vor allem die Schwierigkeit zu stecken, emotional
gute Beziehungen zu anderen herzustellen und aufrecht zu erhalten. Viele
Depressive mussten als Kinder erfahren, dass Beziehung nur möglich war,
wenn sie sich den Erwartungen anderer unterwarfen. Insbesondere konnten
sie sich nicht darauf verlassen, dass ihnen Liebe auch dann gewiss war,
wenn sie sich nicht erwartungsgemäß verhielten.
Wer „sicher gebunden“ ist, kann auch leichter Verluste und Trennungen
verkraften. Denn weniger diese Vorgänge scheinen zu traumatisieren als
vielmehr die Art und Weise, wie Bezugspersonen vorher oder anschließend
auf das betreffende Kind eingehen. Angesichts dieser Zusammenhänge betonen
Beatson und Taryan die Notwendigkeit, vor allem „unsicher gebundene“
Eltern zu befähigen, dass sie zumindest ihren eigenen Kindern einfühlsame
und Emotionskompetenz vermittelnde Vorbilder sind.
J. Beatson u.a.: Predisposition to depression: the role of
attachment. Australian and New Zealand Journal of Psychiatry 2003 (37)
219-225
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