Die
Verlockung ist groß, „Krankheiten“ als fixe Größen zu betrachten, die
unabhängig von menschlichem Denken existieren. Schnell ist vergessen, dass
es sich um Übereinkünfte unter „Wissenschaftlern“ handelt, die Wissen „(er)schaffen“
und die entsprechenden Konstrukte immer wieder revidieren. Anstöße zu Neu-
bzw. Rekonstruktionen liefern nicht nur neue Erkenntnisse (historisches
Beispiel: Bakterien als Krankheitserreger), sondern auch gesellschaftliche
Übereinkünfte (Beispiel: Streichung von „Homosexualität“ aus dem Katalog
der „Krankheiten“).
Vor
allem die mitunter atemberaubenden Entwicklungen im Bereich der
Neurowissenschaften regen permanent dazu an, gängige
Krankheitskonstruktrukte zu hinterfragen, zu erweitern oder anzupassen.
Ein aktuelles Beispiel dokumentiert das Neuroscience Spektrum auf der
Titelseite dieser Ausgabe: Wie Untersuchungen Migräne-Betroffener zeigen,
sind die Patienten im „anfallsfreien“ Intervall keineswegs frei von
Einflüssen ihrer Erkrankung. Ihr Verhalten und Erleben unterscheidet sich
auch in der Zeit zwischen einzelnen Migräne-Attacken von den Befunden bei
migränefreien Personen. Vieles spricht also dafür, das bislang verbreitete
Konzept von Migräne zu erweitern. Eine aktualisierte Betrachtungsweise
(„Migräne als chronische Erkrankung“) kann dann ihrerseits zur Entwicklung
neuer Vorbeugungsstrategien anregen. Außerdem wird die Wirksamkeit von
Migränemedikamenten über kurz oder lang auch anhand ihrer Effekte auf die
Chronizität des Leidens bewertet werden.
Das
aktuellste Beispiel zum Thema „Krankheit als Konstrukt“ liefert zur Zeit
vermutlich die Parkinson-Forschung. Sie konzentrierte sich lange Zeit vor
allem auf Strategien, die Parkinson-Patienten zu einem verbesserten
Dopaminangebot verhelfen sollten. Mittlerweile hat sich das Blickfeld
wesentlich erweitert. Unter dem Stichwort „Neuroprotektion“ schließt es
mittlerweile Ansätze ein, die nicht nur dem Erhalt von Nervenzellen
dienen, sondern auch deren Wachstum und Neubildung fördern. Wie Prof. Dr.
Wolfgang Oertel (Marburg) kürzlich auf einer von Pfizer unterstützten
Fachpressekonferenz erläuterte, gilt zur Zeit dem Wachstumsfaktor GDNF (glial
cell derived factor) besonderes Interesse, da er in einer Pilotstudie an
fünf Patienten bereits Parkinson-Symptome wesentlich bessern konnte. Erste
Ergebnisse einer kontrollierten Studie mit GDNF bei Parkinson-Patienten
werden noch in diesem Jahr erwartet. Sollte sich der Nutzen von GDNF bei
Parkinson bestätigen, könnte dies zu einer neuen Sicht des
Krankheitsbildes und einer Neubewertung der bislang eingesetzten
Medikamente führen. So zeigt eine der neuesten experimentellen Studien zu
Cabergolin (Cabaseril®), dass die Substanz über ihren dopaminergen Effekt
hinaus auch GDNF rasch und eindrucksvoll induzieren kann (innerhalb von 16
Stunden um das bis zu 30-fache im Vergleich zur Kontrolle, vgl.
Pharmacology 2004, 71, 162-168). Dies erscheint bedeutsam, weil GDNF im
Gehirn den Untergang dopaminerger Neuronen verhindert und das Aussprossen
dopaminerger Neuronen fördert. Mit den skizzierten Erkenntnissen könnte
sich ein Paradigmenwechsel in der Parkinsontherapie andeuten. Deren Trend
geht schon jetzt dahin, einen wesentlichen Behandlungsschwerpunkt auch auf
Nervenerhalt und Nervenregeneration zu legen.
Wie
die am Beispiel von Migräne und Parkinson beschriebenen Entwicklungen
verdeutlichen, gilt es heute mehr denn je, flexibel mit
„Krankheitskonstrukten“ umzugehen bzw. offen für neue Erkenntnisse und
Denkansätze zu bleiben. Das Neuroscience Spektrum möchte seinen Leserinnen
und Lesern dafür notwendige Kompetenzen vermitteln. Es variiert daher von
Heft zu Heft seine Themenschwerpunkte, berücksichtigt mit
„Patientenseiten“ auch nichtärztliche Perspektiven und versucht, durch
Beiträge mit „überraschenden“ und „irritierenden“ Erkenntnissen geistige
Mobilität zu fördern. Eine in diesem Sinne anregende Lektüre der heutigen
Ausgabe wünscht Ihnen
Ihre
Pfizer GmbH. |