Depressive fühlen sich häufig als
im Leben „Zu-kurz-Gekommene“. Sie halten dieses Gefühl des „zu wenig“ auf
unterschiedliche Weise am Leben (z.B. in Form des „Nichts wert sein“, „ein
Niemand sein“, „Nichts können“). Sie erleben sich als Menschen, die
dauernd um etwas kämpfen müssen, die immer nur Problemen begegnen oder
dauernd unter Mangel leiden, die sich nichts nehmen dürfen und denen auch
nichts gegeben wird. Deshalb leiden depressive Menschen meist auch unter
einem geringen Selbstwertgefühl („Minderwertigkeit“). Um ihr
Selbstwertgefühl zu stützen, bemühen sie sich um Anerkennung, die sich auf
die eigene Leistungsfähigkeit bezieht („Ich bin, was ich leiste“). Wenn
ihre Leistungsfähigkeit dann einmal nachlässt, fühlen sie sich sofort
bedroht. Dabei neigen Depressive dazu, sich und ihre Leistungen ständig
abzuwerten. Gleichzeitig warten sie hungrig auf Bestätigung durch andere,
von deren Meinung sie sich abhängig machen. Trifft die (angeforderte)
Bestätigung ein, können sie ihr jedoch nicht trauen, weil ihnen bewusst
ist, dass sie ja selbst das Kompliment bestellt haben. Die folgenden
Anregungen zeigen Wege aus dem Dilemma auf.
Stehen Sie
dazu, dass Sie ein „Selbstwertproblem“ haben. Führen Sie sich mögliche
Auslöser vor Augen (z. B. abwertendes, vernachlässigendes oder
desinteressiertes Verhalten wichtiger Bezugspersonen in Ihrer Kindheit,
schlechte Zeugnisse, mangelndes Selbstwertgefühl der Eltern und anderer
Vorbilder, Missachtung der Familie).
Den „inneren Kritiker“
stoppen
Üben Sie konsequent, innerlich laut
„Stopp!“ zu sagen, wann immer die im Eingangstext beschriebenen Zweifel
und selbstabwertenden Gedanken in Ihnen laut werden („Du blöde Kuh...“,
„Du kannst auch gar nichts...“, Du solltest lieber...“). „Befehlen“ Sie
sich regelrecht, stattdessen innerlich die Liste Ihrer persönlichen
Fähigkeiten, Ihrer „Reichtümer“ (das können auch ideelle sein!) und
Erfolge durchzugehen. Notieren Sie zu diesem Zweck entsprechende
Stichworte auf einem Blatt Papier. Hängen Sie diese Erinnerungszettel gut
sichtbar in der Wohnung auf, damit Sie die Sammlung im Lauf mehrerer
Wochen ständig ergänzen können.
Positive Seiten kennen
lernen
Nehmen Sie
ein weiteres Blatt Papier. Stellen Sie sich vor, Sie seien eine Person,
die Ihnen wohl gesonnen ist und der daher vor allem Ihre positiven, wenn
nicht sogar liebenswerten Eigenschaften auffallen. Was könnte das sein?
Notieren Sie alle Beobachtungen und Einfälle auf Ihrem Merkzettel. Hier
sind ein paar Charakteristika depressiv veranlagter Menschen, die sehr oft
geschätzt werden: Viele Depressive sind beharrlich und zuverlässig. Sie
verhalten sich leistungsbezogen und orientieren sich an sozialen Idealen.
Sie wirken bescheiden, da sie selten offen aggressiv fordern. Nicht wenige
sind sehr sensibel, warmherzig und zu tiefem Erleben fähig. Als Partner
sind sie anhänglich und an Nähe interessiert. Sie überstürzen nichts,
sondern überlegen vieles aus Vorsicht lieber mehrfach und detailliert. Sie
sind sehr selbstkritisch und stehen zu eigener „Schuld“. Sie sind die
klassischen Helfer, die nicht zögern, für andere Verantwortung zu
übernehmen und sich notfalls aufzuopfern.
Sich selbst annehmen und ermutigen
Akzeptieren Sie auch diejenigen Seiten Ihrer Person, die „Schwächen“
darstellen. Nehmen Sie sich so an, wie Sie nun einmal geworden sind. Kein
Mensch ist perfekt und für alles verantwortlich! Gerade die
unterschiedliche Mischung aus Stärken und Schwächen verleiht jedem von uns
ein individuelles „Profil“ und macht uns so einzigartig. Stehen Sie auch
anderen gegenüber zu Ihren Schwächen – gerade dies gilt oft als Zeichen
von Stärke! Vertuschen Sie nicht krampfhaft Ihre Nervosität, sondern wagen
Sie es, mit Freunden und Kollegen offen darüber zu reden. Verzeihen Sie
sich selbst mögliche Fehler und schließen Sie mit sich und ihren Schwächen
inneren Frieden. Sagen Sie sich vor allem in Situationen der
Selbstunsicherheit immer wieder „So wie ich bin, bin ich in Ordnung“ und
„Auch das werde ich schaffen.“
Zu sich selbst stehen und sich „echt“ fühlen
Üben Sie,
auch dann Ihre Meinung zu äußern, wenn Ihnen dadurch Nachteile drohen.
Stehen Sie durch Ihre eigene Person für die Werte ein, die Sie aus
Überzeugung vertreten (die also Ihnen nicht nur eingetrichtert oder
diktiert wurden). Verhalten Sie sich so, wie Sie tatsächlich empfinden
(„authentisch“). Wagen Sie es, echt zu sein, statt eine Rolle zu spielen
oder für andere die Marionette abzugeben. Lassen Sie sich wahrnehmen als
der, der Sie sind, statt zu taktieren. Seien Sie stolz darauf, einen
„eigenen Sinn“ zu haben – auch dann, wenn man Ihnen dies als „Eigensinn“
vorwirft. Bleiben Sie eine erkennbare Persönlichkeit und lösen Sie sich
nicht in der anonymen Menge auf. Orientieren Sie sich an „selbstbewussten“
Vorbildern.
Klar und selbstbewusst
auftreten
Warten Sie
nicht auf ein gutes Selbstwertgefühl, um anschließend selbstsicherer
auftreten zu können. Gehen Sie umgekehrt vor: Üben Sie sich darin,
selbstsicher aufzutreten, und staunen Sie darüber, wie dadurch Ihr
Selbstwertgefühl wächst. Benutzen Sie beispielsweise das Wort „ich“ statt
„man“ oder „wir“. Verzichten Sie auf indirekte Redewendungen. Sagen Sie
präzise, was Sie wollen („Ich möchte,..“ „Ich wünsche...“). Drücken Sie
sich kraftvoll, anschaulich (also bildhaft) und schlagfertig aus. Ersparen
Sie es anderen, Ihre Meinung und Ihre Bedürfnisse erraten zu müssen.
Verzichten Sie auf Unterwürfigkeit und Rechtfertigungsreden. Widerstehen
Sie dem „Folgsamkeitsreflex“. Verfallen Sie nicht der Scheinsicherheit und
fraglichen Geborgenheit, die sich durch eine Selbst-Aufgabe bzw.
übermäßige Anpassung scheinbar erkaufen lassen. Sehen Sie Ihrem Gegenüber
direkt in die Augen und lächeln Sie. Unterstreichen Sie Ihr Anliegen mit
passenden Gesten, Haltung, Gesichtsausdruck und Lautstärke. Vergewissern
Sie sich immer wieder vor dem Spiegel, dass Sie aufrecht stehen,
insbesondere nicht Kopf und Schultern hängen lassen. Üben Sie mit Hilfe
eines Tonaufzeichnungsgerätes, laut, ruhig, klar und einer eher tieferen
(also nicht schrillen) Stimme zu sprechen. Menschen mit geringem
Selbstwertgefühl, sind dazu oft nicht in der Lage. Sprechen Sie in
Unterhaltungen stolz an, was Sie gut können (das ist keine „Prahlerei“,
sondern eine sinnvolle Alternative zum „Jammern“). Gehen Sie aufrecht,
selbstbewusst und mit Blickkontakt auf eine fremde Person zu, um
auszuprobieren, ob diese Ihnen ausweicht.
Sich in den Mittelpunkt
stellen
Treten Sie
aus Ihrem Schattendasein. Üben Sie ab und zu, sich konsequent zu zeigen
bzw. regelrecht aufzufallen. Lassen Sie beispielsweise im Restaurant laut
ein Besteckteil auf den Boden fallen. Probieren Sie in Geschäften mehrere
Kleider aus, ohne diese zu kaufen. Rufen Sie in der Öffentlichkeit einem
entfernt stehenden Bekannten laut etwas zu. Tragen Sie Kleidungsstücke,
die Aufsehen erregen. Bitten Sie an Warteschlangen vor Kassen, Sie
vorzulassen. Üben Sie vor anderen Menschen Dinge, die Sie noch nicht so
gut können. Pfeifen oder singen Sie auf der Straße laut vor sich hin. Üben
Sie, anderen Ihr Befinden und Ihre Gedanken mitzuteilen.
Selbstbild
laufend überprüfen und verbessern
Machen Sie
es sich zur Gewohnheit, andere Menschen um positive Rückmeldungen
(Beobachtungen) zu Ihrer Person bitten („Was gefällt dir an mir?“ „Was
kann ich aus deiner Sicht besonders gut?“). Bedanken Sie sich freundlich
für Komplimente und verkneifen Sie sich weitere (oft nur abwertende)
Kommentare. Befreien Sie sich von dem auf Scham beruhenden
Denkautomatismus „Was werden die anderen wohl denken bzw. von mir
erwarten?“ Kümmern Sie sich weniger um die anderen und mehr um sich
selbst. Beziehen Sie nicht alles Mögliche auf sich. Unterscheiden Sie
zwischen Ihrem Wert als Mensch und dem Wert Ihrer Leistungen. Selbst wenn
ein anderer etwas von Ihnen denkt (was seltener sein wird, als Sie
vermuten!), ist und bleibt es die bloße Meinung eines anderen. Eine solche
Meinung verändert noch lange nicht Ihre Persönlichkeit! Entscheiden Sie
selbst, ob Sie diese Meinung teilen wollen. Außerdem: Wenn Sie sich
dauernd fragen, was die anderen denken, nehmen Sie sich zumindest in
diesem Punkt zu wichtig! Überhaupt beschäftigen sich Menschen mit
Minderwertigkeitsgefühlen meist mehr mit sich selbst als Personen ohne
dieses Problem. Trotz der intensiveren Selbstbeschäftigung nehmen sie sich
selbst verzerrt oder teilweise auch gar nicht wahr. Denn es fällt ihnen
schwer, unvoreingenommen in sich hinein zu spüren.
(wird fortgesetzt) |